Besinnliche Leadership-Momente: Was Führungskräfte jetzt von Ruhe lernen können
Wenn die Führung leiser wird – und dadurch wirksamer
Es gibt Zeiten im Jahr, in denen die Welt ein wenig stiller wird. Der Dezember und die Wochen um den Jahreswechsel markieren auch in Organisationen einen natürlichen Übergang – ein Moment, in dem Strukturen ruhiger werden und Führung neu wahrgenommen werden kann. gehören zweifellos dazu. Projekte laufen aus, Termine werden weniger, Kalender lichten sich – und gleichzeitig entsteht ein Raum, den viele Führungskräfte sonst kaum erleben: ein Raum echter Ruhe.
Doch Ruhe ist für viele im Leadership-Kontext ein ungewohntes Terrain. Sie sind es gewohnt, präsent zu sein, Richtung zu geben, Entscheidungen zu treffen, Energie zu halten. Und plötzlich entsteht eine stille Zone, die sich – je nach Persönlichkeit – befreiend, irritierend oder sogar bedrohlich anfühlen kann.
In Coachings höre ich in dieser Zeit oft Sätze wie: „Ich weiß gar nicht, wie ich mit dieser Stille umgehen soll.“ „Es fühlt sich an, als wäre ich nicht produktiv genug.“ „Ich merke, da kommt etwas hoch, dem ich sonst ausweiche.“
Dabei ist gerade diese Stille ein wertvoller Leadership-Moment – einer, der Potenzial birgt, das im hektischen Alltag oft verborgen bleibt.
Warum Ruhe für Führungskräfte mehr ist als Entschleunigung
Bevor wir tiefer in die theoretischen Modelle einsteigen, lohnt sich ein Blick darauf, warum gerade dieser ruhigere Jahresmoment so viel Führungskraft in sich trägt. Ruhe ist nicht nur das Gegenteil von Aktivität. Sie ist eine Qualität, die Wahrnehmung ermöglicht. Wer nicht ständig reagiert, beginnt zu sehen. Wer nicht permanent unter Druck steht, beginnt zu fühlen. Und wer die Stille zulässt, findet Zugang zu Perspektiven, die ihm vorher verborgen waren.
Um diese Wirkung zu verstehen, lohnt sich ein Blick in zentrale Leadership- und psychologische Modelle:
Das „Window of Tolerance“ nach Daniel Siegel
Dieses Modell beschreibt den Zustand, in dem Menschen handlungsfähig, klar und emotional reguliert bleiben. Viele Führungskräfte operieren im Alltag am Rand oder sogar außerhalb dieses Fensters – zwischen Überforderung und Übererregung.
Ruhe erweitert dieses Fenster. Sie ermöglicht:
- bessere Entscheidungsfähigkeit,
- mehr Empathie,
- flexibleres Denken,
- und ein gesünderes Stressniveau.
Polyvagal-Theorie nach Stephen Porges
Diese Theorie erklärt, warum Sicherheit die Grundlage für soziale Verbindung und Führung ist. Wenn Führungskräfte zur Ruhe kommen, aktiviert sich der sogenannte ventrale Vagus-Zweig – der Teil des Nervensystems, der Verbundenheit, Kooperation und Vertrauen ermöglicht.
In der Ruhe wird Führung menschlicher, klarer und präsenter.
Embodied Leadership
Im modernen Leadership spielt der Körper eine große Rolle: Haltung, Atmung, Präsenz. Ruhe ist hier der Zugang zu verkörperter, authentischer Führung. Wer ruhig ist, wirkt klarer – und sendet Signale von Sicherheit an das gesamte Team.
Diese drei Theorien verdeutlichen die Bedeutung von Ruhe als aktivem und wirkungsvollem Führungsfaktor.
Ruhe ist nicht nur das Gegenteil von Aktivität. Sie ist eine Qualität, die Wahrnehmung ermöglicht. Wer nicht ständig reagiert, beginnt zu sehen. Wer nicht permanent unter Druck steht, beginnt zu fühlen. Und wer die Stille zulässt, findet Zugang zu Perspektiven, die ihm vorher verborgen waren.
Im Leadership-Coaching beobachte ich drei zentrale Wirkungen von Ruhe:
1. Ruhe verstärkt die Selbstwahrnehmung
Im Alltag überdecken Meetings, Mails und To-dos oft das, was im Inneren eigentlich präsent ist. Stille macht diese Ebenen wieder hörbar: Bedürfnisse, Grenzen, Wünsche, Irritationen, Sehnsüchte.
Viele Führungskräfte berichten mir, dass sie in Phasen der Ruhe plötzlich spüren, was sie das ganze Jahr über getragen haben – und was sie im neuen Jahr anders gestalten wollen.
2. Ruhe schafft emotionale Entlastung
Führung bedeutet Verantwortung – emotional und strukturell. In Zeiten von Ruhe kann sich diese Verantwortung spürbar setzen. Man erkennt, was man geleistet hat, wo Druck war, wo man gewachsen ist. Es entsteht ein innerer Ausgleich.
Diese Entlastung ist kein Luxus, sondern Voraussetzung für gesunde und wirksame Führung.
3. Ruhe öffnet den Blick für das Wesentliche
Wenn das Rauschen des Alltags leiser wird, wird deutlich, was wirklich zählt: Beziehungen, Prioritäten, Haltung, Klarheit. Viele Führungskräfte erkennen in diesen Momenten, welche Themen sie im neuen Jahr stärken möchten – weniger aus Pflicht, mehr aus Überzeugung.
Was Führungskräfte konkret aus der Ruhe lernen können
Ruhe ist kein passiver Zustand. Sie ist eine Form von bewusster Präsenz. Und sie bietet eine Chance, sich selbst und das eigene Leadership von einer neuen Seite zu betrachten.
Hier einige Impulse, die ich in Coachings immer wieder einbringe – besonders in dieser Jahreszeit:
1. Lernen, innezuhalten
Ein bewusster Stopp – fünf Minuten, eine Stunde oder ein Nachmittag – wirkt wie ein Reset. Er schafft Distanz zu Mustern, die das ganze Jahr unbemerkt wirksam waren.
Viele Führungskräfte erleben in diesen Momenten: „Ich bin nicht meine Aufgaben. Ich bin die Person, die entscheidet, wie ich mit ihnen umgehe.“
2. Die eigenen Ressourcen wieder spüren
In der Stille wird oft sichtbar, wie viel Kraft Führungskräfte im Laufe des Jahres aufgebracht haben. Und welche Energiequellen sie vielleicht vernachlässigt haben.
Ein Klient sagte einmal: „Ich wusste gar nicht, wie müde ich bin – bis ich aufgehört habe zu rennen.“
3. Klarheit finden, bevor man entscheidet
Ruhe ist ein Denkraum. Eine Zone, in der Entscheidungen nicht aus Druck entstehen, sondern aus Tiefe.
Eine Klientin beschrieb es so: „In der Ruhe sortieren sich meine Gedanken, und ich sehe plötzlich, was wirklich wichtig ist.“
4. Nähe schaffen – zu sich und zum Team
Stille schafft Verbindung. Wer selbst ruhig wird, begegnet anderen anders: präsenter, klarer, achtsamer. In Teams wirkt das wie ein atmosphärischer Wechsel – von Tempo zu Tiefe.
Ein Blick in die Praxis: Als ein Team im Dezember plötzlich gemeinsam durchatmete
Beispiel 1: Wenn ein Team durch Stille wieder Verbindung findet
Vor einigen Monaten begleitete ich ein Team, das ein herausforderndes Jahr hinter sich hatte. Viel Veränderung, viel Tempo, viele Erwartungen. Im Dezember arbeiteten wir an einem Nachmittag bewusst mit Stille:
Wir saßen im Kreis, jeder mit etwas Abstand. Keine Flipcharts, keine Aufgaben, kein Ziel. Nur ein Impuls: „Was möchte in diesem Jahr noch gehört werden?“
Zuerst war die Stille fast unangenehm – man konnte spüren, wie ungewohnt dieser Raum für viele war. Doch nach einigen Minuten veränderte sich etwas. Gesichter wurden weicher. Schultern sanken. Einige begannen zu sprechen, andere schwiegen – aber es war ein echtes Miteinander.
Am Ende sagte ein Teilnehmer: „Ich wusste nicht, wie sehr wir als Team dieses Durchatmen gebraucht haben.“
Dieser Moment hat das Team nachhaltig geprägt – nicht durch große Maßnahmen, sondern durch die Qualität der Ruhe.
Beispiel 2: Wenn Ruhe selbst in hektischen Phasen neue Perspektiven öffnet
Vor einiger Zeit erzählte mir eine Führungskraft aus einem stark ausgelasteten Projektbereich, dass sie nach einem unerwartet ruhigen Morgenmeeting bemerkte: „In diesen zehn Minuten Stille hatte ich mehr Klarheit als in den letzten drei Tagen.“ Dieser kurze Moment wurde später zum Auslöser für eine strukturelle Veränderung im Team – regelmäßige ruhige Startphasen, die heute fest etabliert sind.
Wie Führungskräfte die Stille aktiv nutzen können
Ruhe fällt nicht vom Himmel. Sie entsteht, wenn Führungskräfte bewusst Räume dafür schaffen – für sich und andere.
Hier einige Möglichkeiten, wie das gelingen kann – ergänzt um einen Impuls zur digitalen Ruhe, die zunehmend entscheidend für mentale Klarheit wird:
- Mikro-Pausen in Meetings, in denen wirklich niemand spricht.
- Reflexionsfragen am Ende eines Tages: „Was hat mich heute bewegt?“
- Technikfreie Zeiten, um mentale Ruhe zu spüren.
- Beziehungsarbeit im Team, die nicht von Aufgaben, sondern von echtem Austausch getragen ist.
- Gemeinsame Rituale zu Jahresende oder Jahresbeginn, die Verbindung schaffen.
Warum Ruhe eine Kernkompetenz moderner Führung ist
In Zeiten von Veränderung, Komplexität und hoher Geschwindigkeit wird Ruhe oft als Schwäche missverstanden. Doch sie ist das Gegenteil: eine Form von Klarheit und Selbstbewusstsein.
Führungskräfte, die Ruhe zulassen können, sind:
- präsenter,
- mutiger,
- klarer in Entscheidungen,
- empathischer im Umgang mit Menschen,
- und nachhaltiger in ihrer Wirkung.
Ruhe ist kein Rückzug – sie ist ein strategischer Bestandteil wirksamer Führung.
Die leise Kraft der Führung
Zum Jahresende hin zeigt sich eine Wahrheit, die im Alltag oft untergeht: Führung entsteht nicht nur im Tun – sondern auch im Sein.
Wer die Stille nutzt, gewinnt Klarheit. Wer die Ruhe annimmt, findet Kraft. Und wer bewusst innehält, schafft einen Raum, in dem neue Perspektiven entstehen können – für sich selbst und für das gesamte Team.
So wird die leise Kraft der Führung zu einem bewussten Führungsakt – und vielleicht gerade jetzt ist ein guter Moment, sich selbst eine einzige Frage zu stellen: Welchen Raum der Ruhe möchte ich mir und meinem Team in den kommenden Wochen schenken? zu einer spürbaren Wirkung: authentisch, präsent und menschlich.
