Konflikte verstehen und steuern
Die Konflikttreppe von Friedrich Glasl
Konflikte sind fester Bestandteil jeder Führungsrolle – sie tauchen oft dann auf, wenn Ziele, Werte oder Rollenbilder aufeinandertreffen. Ich erinnere mich an einen Workshop, in dem zwei Bereichsleitungen zunächst kaum miteinander reden wollten – und genau dort beginnt oft die eigentliche Arbeit an guter Zusammenarbeit. Konflikte sind unangenehm, oft emotional aufgeladen, aber auch voller Potenzial für Entwicklung. Entscheidend ist nicht, ob Konflikte entstehen, sondern wie wir mit ihnen umgehen. In meiner Arbeit als Coach und Moderator begleite ich regelmäßig Teams, deren Zusammenarbeit von Spannungen und Missverständnissen geprägt ist. Ein Modell, das mir und meinen Kunden dabei immer wieder wertvolle Orientierung bietet, ist die Konflikttreppe nach Friedrich Glasl.
Warum die Konflikttreppe so hilfreich ist
Die Konflikttreppe beschreibt die Eskalationsstufen eines Konflikts. Sie hilft Führungskräften dabei, Konfliktdynamiken besser zu verstehen und geeignete Maßnahmen zur Deeskalation zu ergreifen. Glasl unterteilt die Eskalation in neun Stufen – gegliedert in drei Hauptphasen. Diese Einteilung ist besonders hilfreich, da sie nicht nur das Konfliktniveau deutlich macht, sondern auch aufzeigt, wann noch eine Win-Win-Lösung möglich ist und wann externe Hilfe erforderlich wird.
Vor allem für Führungskräfte ist es entscheidend zu erkennen, auf welcher Eskalationsstufe sich ein Konflikt befindet – denn davon hängt ab, wie sie sinnvoll intervenieren können. Ein frühzeitiges Eingreifen kann verhindern, dass Spannungen eskalieren und sich negativ auf das gesamte Teamklima auswirken.
Die neun Stufen der Konflikttreppe im Überblick
🟢 Gruppe 1: Win-Win (Stufe 1–3)
Hier lässt sich der Konflikt noch gemeinsam und fair lösen. Beide Seiten suchen aktiv nach Verständigung.
- Verhärtung: Erste Spannungen entstehen. Die Meinungen prallen aufeinander, bleiben aber noch im Rahmen eines konstruktiven Austauschs.
- Debatte/Polarisation: Die Diskussion wird schärfer. Standpunkte verhärten sich, man spricht eher über als mit dem anderen.
- Taten statt Worte: Die Kommunikation bricht teilweise ab, erste Aktionen werden gesetzt, um den anderen zu beeindrucken oder unter Druck zu setzen.
🟡 Gruppe 2: Win-Lose (Stufe 4–6)
Jetzt wird es kritisch. Die Konfliktparteien versuchen, den anderen zu besiegen.
- Koalitionen bilden: Man sucht sich Verbündete. Das Wir-Gefühl innerhalb der eigenen Partei wächst – die Gegenseite wird zum „Feind“.
- Gesichtsverlust: Persönliche Angriffe nehmen zu. Es geht nicht mehr um das Thema, sondern darum, den anderen zu entwerten.
- Drohstrategien: Offene oder verdeckte Drohungen werden ausgesprochen, um die Oberhand zu gewinnen.
🔴 Gruppe 3: Lose-Lose (Stufe 7–9)
In dieser Phase geht es nicht mehr um Lösungen – nur noch um Schaden für den anderen, auch wenn man selbst dabei verliert.
- Begrenzte Vernichtung: Der Gegner soll schmerzhaft verlieren. Eigene Nachteile werden in Kauf genommen.
- Zersplitterung: Das Ziel ist die vollständige Zerstörung des Gegners – wirtschaftlich, sozial oder psychologisch.
- Gemeinsam in den Abgrund: Der Konflikt ist völlig außer Kontrolle. Beide Seiten nehmen völligen Schaden in Kauf – Hauptsache, der andere geht mit unter.
Zurück auf Anfang – wenn Verständigung wieder möglich wird
In meiner Moderation von Teamkonflikten – zum Beispiel in einem Produktionsunternehmen mit mehreren hundert Mitarbeitenden – saßen kürzlich zwei Teamleitungen am Tisch, die seit Monaten nur noch über Dritte kommuniziert hatten. Die Stimmung war angespannt, das gegenseitige Vertrauen stark beschädigt. Zu Beginn der Moderation bewegten sie sich klar in Stufe 5 – Gesichtsverlust. Mit der Zeit, durch gezielte Visualisierungen, aktives Zuhören und das Herausarbeiten gemeinsamer Interessen, fanden beide langsam wieder Zugang zueinander. Am Ende des Tages standen sie auf Stufe 2 – Debatte – und formulierten gemeinsam Regeln für die künftige Zusammenarbeit.
Das zeigt: Mit der richtigen Unterstützung ist eine Rückkehr in konstruktive Gesprächsphasen möglich. Es braucht dafür ein strukturiertes Setting, Geduld und eine Führung, die bereit ist, Verantwortung für den Dialogprozess zu übernehmen. Häufig ist es genau dieser Prozess der langsamen Deeskalation, der langfristige Zusammenarbeit wieder ermöglicht. Auch wenn sich nicht alle Differenzen sofort auflösen lassen – das gemeinsame Verstehen und Gehörtwerden ist ein bedeutender erster Schritt.
Führung heißt auch: Konflikte lesen lernen
Das Modell der Konflikttreppe bietet eine Art „Landkarte“ für Führungskräfte. Wer die Stufe eines Konflikts erkennt, kann bewusster handeln:
- In Gruppe 1: Selbst moderieren, zuhören, klären.
- In Gruppe 2: Externe Moderation einholen, strukturierte Gespräche ermöglichen.
- In Gruppe 3: Professionelle Mediation oder sogar juristische Klärung notwendig.
Ein zentraler Gedanke dabei: Führung bedeutet auch, emotional „drüberzustehen“ – etwa wenn sich zwei Kolleg:innen im Meeting lautstark streiten und alle Blicke zur Führungskraft gehen. In solchen Momenten entscheidet nicht die perfekte Lösung, sondern die ruhige, reflektierte Präsenz, die den Rahmen für Klärung schafft – nicht im Sinne von Gleichgültigkeit, sondern als Haltung der Verantwortung.
Diese Haltung lässt sich erlernen und kultivieren. Sie beginnt mit Selbstreflexion: Wie gehe ich selbst mit Konflikten um? Reagiere ich mit Rückzug, Konfrontation oder Vermittlung? Und wie wirkt sich das auf mein Team aus? Wer diese Fragen ehrlich beantworten kann, schafft die Grundlage für eine Kultur, in der Konflikte als Entwicklungschance gesehen werden.
Fazit: Konfliktkompetenz ist Führungsqualität
Konflikte sind keine Störungen, die es zu vermeiden gilt – sie sind Teil lebendiger Zusammenarbeit. Wer lernt, sie zu erkennen, ernst zu nehmen und konstruktiv zu bearbeiten, stärkt nicht nur das Team, sondern auch seine eigene Führungsrolle. Und genau dabei ist das Modell von Glasl ein kraftvolles Werkzeug.
Ich freue mich immer wieder, wenn ich in Workshops erlebe, wie aus verhärteten Fronten wieder Gesprächspartner werden. Es lohnt sich, hinzuschauen – und gemeinsam eine Stufe nach unten zu gehen.
Wenn Sie Ähnliches in Ihrem Team erleben und sich fragen, wie Sie mit Klarheit und Struktur zu besseren Lösungen kommen können, begleite ich Sie gern auf diesem Weg.
Denn: Gute Führung zeigt sich nicht, wenn alles rund läuft – sondern gerade dann, wenn es knirscht.