Wenn das gemeinsame Kapitel endet …

Nach intensiven Wochen oder Monaten voller Entscheidungen, Konflikte, Lernerfahrungen und gemeinsamer Erfolge endet ein Projekt. Das Team löst sich auf, die Mitglieder gehen zurück in ihre Linienfunktionen, wechseln in neue Projekte oder verlassen vielleicht sogar das Unternehmen.

Man verabschiedet sich – manchmal mit einem Lächeln, manchmal mit einem Kloß im Hals.

Was bleibt, ist oft ein Gefühl von Leere, ein Abschied von etwas Besonderem. Ein Moment, der selten Beachtung findet – aber für viele Menschen emotional hoch bedeutsam ist. In der Teamentwicklung nennen wir das: die Adjourning-Phase.

Und genau hier entsteht ein Spannungsfeld: In einem Kundenprojekt hatte ich es mit einem hochmotivierten Projektteam zu tun, das über Monate hinweg intensiv zusammengearbeitet hatte. Am letzten Tag der Projektphase verabschiedete sich das Team zwischen Tür und Angel, weil das nächste Projekt bereits startete. Wochen später berichteten mehrere Mitarbeitende, wie leer sich dieser abrupte Abschied angefühlt habe – und wie schwer es ihnen fiel, sich emotional auf das neue Team einzulassen. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig ein bewusster Übergang ist. Während Organisationen oft schon auf das nächste Projekt blicken, sind viele Mitarbeitende innerlich noch beim Abschied. Wer diesen Übergang nicht würdigt, riskiert stille Demotivation und unerklärliche Spannungen im nächsten Teamprozess.

Die Adjourning-Phase: Ursprung und Bedeutung

Die Adjourning-Phase wurde 1977 von Bruce Tuckman ergänzt – ursprünglich umfasste sein bekanntes Modell der Teamentwicklung vier Phasen: Forming, Storming, Norming und Performing. Erst später erkannte man, dass eine fünfte Phase nötig ist, um den Lebenszyklus eines Teams vollständig zu beschreiben: die Auflösungsphase.

Während Forming vom Kennenlernen geprägt ist und Performing die produktive Hochphase darstellt, ist Adjourning die Zeit des Abschieds. Sie wird oft übersehen, dabei ist sie für die emotionale Verarbeitung zentral – und bietet wertvolle Chancen für Reflexion und Wertschätzung.

In dieser Phase entscheidet sich nicht nur, wie ein Team auseinandergeht, sondern auch, wie seine Mitglieder in neue Kontexte starten. In einem anderen Coaching-Projekt begleitete ich ein Team, das sein Projekt bewusst mit einer symbolischen Abschlussrunde beendete. Jeder durfte sagen, was er oder sie gelernt, geschätzt und mitgenommen hat. Monate später berichteten einige Teammitglieder, dass ihnen dieser Moment geholfen habe, sich schneller und mit mehr Klarheit in neue Projekte einzubringen. Wer sich respektvoll verabschieden darf, trägt diese Erfahrung als Ressource weiter. sondern auch, wie seine Mitglieder in neue Kontexte starten. Wer sich respektvoll verabschieden darf, trägt diese Erfahrung als Ressource weiter.

Typische Verhaltensweisen in der Adjourning-Phase

In dieser Phase zeigen Teammitglieder ganz unterschiedliche Reaktionen:

  • Melancholie oder Wehmut: Besonders wenn das Team sehr eng zusammengewachsen ist, entsteht ein Gefühl von Verlust.
  • Rückzug: Manche distanzieren sich innerlich schon früh, um sich vor dem Abschiedsschmerz zu schützen.
  • Idealisiertes Rückblicken: Die Zusammenarbeit wird verklärt – „Es war doch alles so toll …“, auch wenn es Konflikte gab.
  • Schnelle Neuorientierung: Andere stürzen sich direkt in neue Aufgaben – oft, um sich emotional nicht mit dem Abschied auseinanderzusetzen.
  • Zynismus oder Gleichgültigkeit: Ein scheinbar kühler Abschied kann ebenfalls Ausdruck eines unbewältigten Prozesses sein.

Besonders spannend ist der Blick auf neue Mitarbeitende: Viele kommen aus einem Kontext, den sie emotional noch nicht ganz verlassen haben. Sie befinden sich im Adjourning ihres alten Teams – und gleichzeitig im Forming des neuen. Eine doppelte Herausforderung, die Führungskräfte im Blick haben sollten.

Ein weiterer Aspekt: Auch hybride oder virtuelle Teams erleben Adjourning – oft jedoch ohne echten Moment des Abschlusses. Gerade hier sind bewusste Rituale wichtig, weil der Abschied sonst leise und unbewusst verläuft. Ein einfaches, aber wirkungsvolles Format ist zum Beispiel ein virtuelles „Teamabschluss-Dialog“, bei dem jede Person in einer letzten gemeinsamen Videokonferenz drei Dinge benennt: Was nehme ich mit? Was lasse ich zurück? Was wünsche ich dem Team? Solche kleinen Formate schaffen Verbindung und einen emotionalen Abschluss – auch auf Distanz. – oft jedoch ohne echten Moment des Abschlusses. Gerade hier sind bewusste Rituale wichtig, weil der Abschied sonst leise und unbewusst verläuft.

Wo Adjourning sichtbar wird

Die Adjourning-Phase begegnet uns nicht nur am Ende klassischer Projekte. Sie spielt auch eine Rolle:

  • beim Abschluss temporärer Taskforces oder Projektgruppen
  • bei Teamveränderungen durch Reorganisationen oder Personalwechsel
  • bei Kündigungen und Austritten
  • bei Umstrukturierungen und Standortschließungen
  • am Ende von Entwicklungsprogrammen, Traineegruppen oder internen Netzwerken
  • bei Abschluss von Veränderungsprojekten und Transformationsprozessen

Kurz: Überall dort, wo Zusammenarbeit endet – auch, wenn sie gut war.

Und manchmal ist Adjourning gar nicht offensichtlich: Die Einführung eines neuen digitalen Tools, wie etwa die Ablösung einer lang genutzten Kommunikationsplattform, kann für Teams bedeuten, dass ein vertrauter Raum verloren geht. Obwohl der Übergang organisatorisch oft als reibungslos geplant ist, erleben viele Beteiligte den Abschied als Bruch in der Zusammenarbeit. Ohne einen bewussten Abschluss – etwa durch eine letzte gemeinsame Sitzung im alten System mit einem symbolischen Rückblick – bleibt oft ein Gefühl von Unfertigkeit oder Entwurzelung zurück.: Auch das Ende eines gemeinsamen Raums – etwa durch Homeoffice, Hybridarbeit oder neue Tools – kann einen Abschiedsprozess auslösen.

Was Führungskräfte tun können

Eine wirksame Führungskraft erkennt diese Phase nicht nur – sie gestaltet sie. Denn ein bewusster Abschluss beeinflusst nicht nur die emotionale Lage, sondern auch die Kultur im Unternehmen. Hier ein paar konkrete Empfehlungen:

1. Den Abschied bewusst machen

Bieten Sie einen Rahmen für einen symbolischen Abschluss: ein Team-Rückblick, eine gemeinsame Reflexion, ein Dankeschön. Rituale helfen, das Erlebte emotional zu verarbeiten. Auch kleine Gesten – eine Karte, ein gemeinsames Foto, ein Abschluss-Moment – wirken nach.

2. Emotionen Raum geben

Sprechen Sie offen über das Ende des Projekts oder der Zusammenarbeit. Geben Sie den Menschen das Gefühl, dass Abschiedsschmerz kein Zeichen von Schwäche ist – sondern von Engagement. Wer Trauer zulassen darf, kann auch wieder Freude empfinden.

3. Transitionsräume schaffen

Hilfreich ist auch ein „weicher“ Übergang – z. B. durch ein kurzes Nachtreffen nach Projektende oder ein bewusstes Onboarding für neue Kontexte. Wer sauber abschließt, kann leichter neu beginnen. Gerade bei überlappenden Projekten kann das helfen, emotionale Klarheit zu gewinnen.

4. Rückblick mit Lernimpuls

Nutzen Sie die Adjourning-Phase zur Teamentwicklung: Was haben wir gelernt? Was würden wir anders machen? Welche Erfolge nehmen wir mit? Diese Fragen stärken nicht nur die Reflexion, sondern auch den Stolz auf das gemeinsam Erreichte.

5. Transfer fördern

Ermutigen Sie die Teammitglieder, ihre Erfahrungen in neuen Kontexten zu nutzen. Wer weiß, was er geleistet hat, kann selbstbewusster neu starten. Ein guter Abschluss stärkt die nächste Phase – ob im selben Unternehmen oder anderswo.

Fazit

Die Adjourning-Phase ist kein Nebenschauplatz – sie ist ein essenzieller Bestandteil der Teamentwicklung. Teams, die auch den Abschluss bewusst gestalten dürfen, sind reifer, reflektierter und langfristig leistungsfähiger.

Ein guter Abschied würdigt das gemeinsam Erreichte – wie ein letztes Kapitel, das bewusst geschrieben wird, bevor ein neues Buch beginnt. Oder, wie es eine Projektleiterin einmal sagte: „Ein wertschätzender Abschluss ist wie ein Fenster, das sich leise schließt, damit sich das nächste mit frischem Wind öffnen kann.“ – und macht den Weg frei für neue Aufgaben. Führung bedeutet nicht nur Anfangen und Steuern – sondern auch wertschätzend Beenden.